In Konflikt zu sein, macht einen Teil des Individuums aus, seiner Beziehung mit sich selbst, mit anderen Individuen und der Welt, die es umgibt.

Diese Tatsache abzustreiten, würde nicht nur bedeuten, die Möglichkeit abzustreiten, dass es zwischen verschiedenen Individuen unterschiedliche und unvereinbare Interessen geben kann, sondern auch, die Individualität selbst abzustreiten.

In einer Gesellschaft taucht der Konflikt auf, wenn sich die Interessen eines oder mehrerer Teile der Gesellschaft im Kontrast zu den Interessen des Restes der Gesellschaft befinden. Diese Interessen können sehr unterschiedlich sein und zum Beispiel von der schlichten Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen bis zur Suche nach einem komplett anderen Leben reichen.

In der Gesellschaft, in der wir leben, scheint der soziale Konflikt immer weniger präsent zu sein, oder sich zumindest, im Vergleich zu anderen Epochen, weniger klar auszudrücken. Die Abwesenheit oder geringe Sichtbarkeit dieses Konfliktes in einer Gesellschaft kann zwei Bedeutungen haben: die erste ist, dass es keine besonderen Interessensgegensätze innerhalb der Gesellschaft gibt, was also bedeuten würde, dass wir am Ende der Geschichte angekommen sind, eine perfekte Gesellschaft erreicht haben, in der alle Interessen harmonisch nebeneinander existieren.

Die zweite Bedeutung hingegen ist, in einer befriedeten Gesellschaft zu leben, in welcher der Konflikt abgeschwächt, unsichtbar gemacht und so verwaltet wird, dass er sich nicht offen, in seiner ganzen Ausdehnung ausdrücken kann, oder auch einfach, dass er sich woanders ausdrückt.

Wir Anarchisten glauben, von der Lösung der sozialen Frage noch ziemlich weit entfernt zu sein. Im Gegenteil, wir befinden uns noch am Anfang der Geschichte der Freiheit. Darum glauben wir, dass die Bedeutung, die wir der geringen Präsenz von Konflikten in unserer Gesellschaft geben müssen, ist, dass wir in einer befriedeten Gesellschaft leben, in der die Konflikte zwar existieren, aber dazu neigen, sich unter der Oberfläche abzuspielen.

Der Konflikt in der demokratischen Gesellschaft

Zur Zeit scheint der soziale Konflikt eingeschläfert, nicht fähig, sich offen in unserer Gesellschaft auszudrücken, im Vergleich zu anderen Epochen, in denen sich der Konflikt zwischen Freiheit und Autorität gewaltsam und auf offenem Feld ausdrückte. All dies liegt daran, dass sich die demokratische Gesellschaft, auch wenn sie zugibt, viele Mängel zu haben, als die beste aller möglichen Gesellschaften verkauft, die es gibt, die beste jener also, die realistisch vorstellbar sind, kurz gesagt, die am wenigsten schlimme. Laut den Verfechtern der Demokratie bedeutet die Tatsache, diese Gesellschaft trotz ihrer Mängel zu akzeptieren, das geringere Übel zu akzeptieren; sie hingegen in Frage zu stellen oder gar anzugreifen, würde uns entweder an den Rand des gesellschaftlichen Chaos oder zu einer „unterdrückerischeren Diktatur“ führen.

Schliesslich gestehen praktisch alle ein, dass es besser ist, hier zu leben, als unter anderen diktatorischen Regimes in anderen Teilen der Welt.


„Es ist gesagt worden, dass die Demokratie die schlimmste Form der Regierung sei, mit Ausnahme all jener anderen Formen, die bisher ausprobiert wurden.“

Churchill

Die Demokratie behauptet, die Interessen eines Volkes oder einer Gemeinschaft zu vertreten – abstrakte Wesenheiten, die das gleiche sein sollen, wie die Summe aller Individuen, die ununterschieden Teil davon sind. Dies ist nichts anderes als eine Lüge, die ausgehend von der Abstrahierung vom Individuum, von seinen Interessen und seiner sozialen Situation behauptet, alle miteinander zu vereinigen, indem sie uns alle in dasselbe Boot setzt; schliesslich sind wir doch alle Menschen und Teil derselben Gemeinschaft: der Konflikt, der zwischen Reichen und Armen, Ausbeutern und Ausgebeuteten existieren müsste, wird somit zunichte gemacht oder auf eine andere Ebene verschoben, auf die Ebene der Erschaffung von „gemeinsamen Interessen“, für die es möglich ist, Übereinkünfte zu finden, anstatt jener der unterschiedlichen Interessen von Individuen oder Kategorien. Es ist unnötig, zu sagen, dass diese „gemeinsamen Interessen“ oft die Interessen derjenigen sind, die uns ausbeuten und unterdrücken, und die mehr daran zu gewinnen haben, dass die aktuelle Gesellschaft aufrechterhalten wird. Einige Beispiele gemeinsamer Interessen könnten sein: die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens, welcher eine praktisch ungestörte Ausbeutung von Seiten der Bosse ermöglicht, im Austausch gegen eine Verbesserung der Ausbeutungsbedingungen im Vergleich zu den Nachbarländern; die Aufrechterhaltung der demokratischen Gesellschaft, in welcher der Dialog, die Übereinkunft und der Kompromiss zwischen einander entgegengestellten Kategorien immer möglich ist; die Wirtschaft, denn wenn die Wirtschaft gut funktioniert, profitiert die ganze Gemeinschaft davon, sei es durch die Erschaffung von neuen Arbeitsplätzen, die Erhöhung der Löhne oder der Sozialhilfe vom Staat; die Sicherheit, denn eine höhere Sicherheit soll uns erlauben, unser Leben ungestört und ohne Risiken zu leben.

Die existierenden Konflikte werden also im Namen dieser „höheren gemeinsamen Interessen“ befriedet, die alle darauf abzielen, die aktuelle Gesellschaft zu reproduzieren.

Eine Gesellschaft, die behauptet, auf der Übereinkunft zwischen unterschiedlichen Interessen zu basieren, die in starkem Gegensatz zueinander stehen, kann nur eine Illusion sein, zumindest solange diese Gegensätze nicht beseitigt sind.

Die Rolle der Politik

In diesem Licht wird die Rolle der „Politik“ deutlich, bei welcher der Konflikt, anstatt von den direkt Betroffenen geklärt zu werden, an dritte Instanzen delegiert wird (Politiker, Parteien, Vereine,…), die sich darum kümmern, diesen Konflikt innerhalb des demokratischen Rahmens des Dialogs zwischen den verschiedenen Beteiligten und somit durch eine Übereinkunft zu verwalten, die fähig ist, alle, oder wenn dies nicht möglich ist, die Mehrheit der eigenen Mitglieder so gut als möglich zufriedenzustellen.

Die Konfrontation zwischen diesen politischen Kräften wird zu einer Konfrontation zwischen Repräsentationen, zu einem künstlichen Spektakel der wirklichen Konfrontation. Eine der Konsequenzen dieser simulierten Konfrontation besteht darin, das Level der wirklichen Konfrontation herabzusetzen und dafür zu sorgen, dass diese Konflikte von staatlichen oder parastaatlichen Institutionen vermittelt und filtriert werden, was den direkt Betroffenen die Kontrolle darüber entzieht.

So scheint es möglich, dass Ausgebeutete und Ausbeuter im Namen eines „Gemeingutes“ (das Volk, die Nation, die Gemeinschaft…), für das es möglich ist, eine Übereinkunft zu finden, Seite an Seite auskommen können, anstatt sich im Kampf für die Aufrechterhaltung oder für das Ende der Ausbeutung und der Unterdrückung zu befinden.

Der Dialog

Aus eben diesen Gründen weisen wir Anarchisten die Politik zurück. Wir glauben nicht, dass der Dialog zwischen den Interessen von Unterdrückten und Unterdrückern möglich ist, ebensowenig wie wir glauben, dass dieser überhaupt existieren sollte. Zwischen denjenigen, die die Freiheit wollen, und denjenigen, die sie im Namen von höheren Interessen negieren wollen, kann es nichts gemeinsames geben.

Wenn wir eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und ohne Autoritäten erreichen wollen, können wir dies nur durch den kompromisslosen Ausdruck dieser Interessensgegensätze zwischen ihren Teilen erreichen, und somit durch einen Konflikt, der sich entweder im Erreichen der Freiheit oder in der Fortführung der Ausbeutung auflösen kann. Aus diesem Grund können wir mit unseren Ausbeutern und Unterdrückern weder Dialog noch Kompromisse akzeptieren, aus diesem Grund befinden wir uns im Krieg mit ihnen, bis sie nicht mehr existieren.

Diejenigen hingegen, die behaupten, dass ein Dialog möglich sei (auch wenn sie in gutem Glauben denken, dies könnte die Sache der Freiheit voranbringen), schläfern diese Konflikte ein und tun nichts anderes, als zur Aufrechterhaltung des aktuellen Status Quo und zur Reproduktion der aktuellen Bedingungen der Ausbeutung beizutragen.